Da, wo die Zeit stehen geblieben ist

Immer schmaler wird die Straße, die zum Hauptplatz des Dorfes Villanueva del Campillo führt. Ein Auto älteren Modells macht mir Platz. Am Steuer sitzt ein weißhaariger Mann, der mir zusammen mit seinen Enkeln im Teenageralter mit großen Augen hinterher schaut. Auch die Gäste in der kleinen Bar am Rande des Marktplatzes, die sich am späten Abend mit einem routinierten „Hasta mañana“ („Bis morgen“) verabschieden werden, starren mich neugierig an. Bei einer Einwohnerzahl von 107 fallen neue Gesichter auf.

Eben auf diesem Platz, an dieser Bar, findet das öffentliche Leben von Villanueva del Campillo statt. Er repräsentiert den ganzen Stolz des Ortes, symbolisiert durch zwei steinerne Schweinsfiguren in der Mitte des kleinen Rondells. Die aus der Zeit der Kelten stammenden Relikte wurden in der Nähe gefunden und deuten an, wie lange es diesen kleinen Ort in Kastilien und Leon schon geben muss. Eine von ihnen ist sogar die größte Figur dieser Art, die jemals in Europa gefunden wurde. Die Wohnhäuser, die sich rundherum anlehnen, wirken robust, teils in die Jahre gekommen, aber trotzdem sonderbarerweise lebendig. Denn anders als man es von einem so kleinen Dorf wie diesem erwarten mag, gibt es hier erstaunlich viele Kinder und Jugendliche. Während die Kleinen mit ihren Laufrädern begeistert die Schweine umrunden, sitzen die Älteren entspannt auf den Bänken vorm Rathaus, das mit seinem rostigen Uhrenturm und dem daran angebauten Megaphon wie aus einem Western entsprungen zu sein scheint. Die Zeiger der Uhr sind auf fünf nach Zwölf stehen geblieben, viel verwaltet wird hier nicht mehr.

Kaum Einwohner, dafür eine riesige Gemeinde

Die Verwaltung übernimmt längst der Landkreis von Barco de Ávila-Piedrahíta. Er ist für ganze 63 Gemeinden zuständig, von denen nur zwei mehr als 1000 Einwohner haben. Eine davon ist Piedrahíta, einst bei Adeligen und Königen äußerst beliebt, heute vor allem bei den Bewohnern von Villanueva del Campillo. Der Ort ist mit 22 Kilometern Entfernung die nächstgelegene Möglichkeit, um sich mit Waren für das alltägliche Leben einzudecken. 

Supermarkt auf Rädern

Möchte man sich diesen Weg ersparen, muss man darauf warten, dass die Lebensmittel zu einem kommen. Pünktlich um 10.30 Uhr fährt der Obst- und Gemüsewagen über die schmale Straße, über die auch ich in den Ort gekommen war. Jeder hier weiß, wo er zuerst halten wird und an welchen Tagen sich kleine Schlangen vor seinem Transporter bilden. Trotzdem lässt er seine Hupe immer wieder ertönen. Durch einen Lautsprecher informiert er die Anwohner, was er heute zum Verkauf dabei hat. Ähnlich macht es auch der Bäcker um 11 Uhr und der kleine Supermarkt auf Rädern um halb 12 Uhr. Letzterer bringt alles mit, was man im Alltag braucht: Dosentomaten, Shampoo und Kondome. Der neueste Klatsch und Tratsch aus den Nachbarorten ist da inklusive.

Das leere Spanien

In Villanueva del Campillo hat man akzeptiert, dass die Zeit anders läuft als in den Metropolen Spaniens. Sie ist stehen geblieben – wie die Uhr am Rathausturm. Der kleine Ort symbolisiert das, was man hier in dem südeuropäischen Land „La España vacía“ nennt, das „leere Spanien“. Beschrieben wird damit das Phänomen, dass sich 90 Prozent der spanischen Bevölkerung auf 30 Prozent der Fläche des Landes konzentrieren. Nicht vergessen sollte man dabei, dass Spanien sowie so schon nur etwas mehr als die Hälfte der Einwohner Deutschlands hat und dabei flächenmäßig fast doppelt so groß ist. Abseits von den frequentierten Straßen und Städten kann man daher noch das finden, was in Europa immer rarer wird: endlose Weite und fast unberührte Natur. Was einerseits nach absoluter Entspannung klingt, ist andererseits harter Alltag für all jene Spanier, die in eben diesen verlassenen Gegenden leben. Arbeit gibt es hier nur wenig, da die traditionellen Wirtschaftszweige Landwirtschaft und Viehzucht durch ihre zunehmende Mechanisierung immer weniger Arbeitsplätze benötigen. Wer also nicht auf dem Traktor oder im Stall arbeiten will und kann, der sollte versuchen in der Tourismusbranche unterzukommen. Denn zumindest Einheimische verschlägt es ab und an in diese bevölkerungsarmen Regionen, von denen einige zu den schönsten ganz Spaniens gezählt werden.

Touristen gibt es hier trotzdem

Auch in Villanueva versucht man Touristen für ihr kleines Dorf zu begeistern. Gäste können hier in einer einfachen Herberge oder einem mittelalterlich angehauchten Spa-Hotel unterkommen. Außerdem führt die „Ruta Teresiana de la Salud“ durch den Ort; ein insgesamt 118 Kilometer langer Pilgerweg von El Barco de Ávila bis nach Ávila, der die kulturhistorischen Sehenswürdigkeiten der Region miteinander verbindet und so das Interesse für die verlassenen Gemeinden steigern soll.

Vorbei führt der Wanderweg fast direkt an der alten Kirche von Villanueva del Campillo, die im 16. Jahrhundert auf dem höchsten Punkt des kleinen Dörfchens gebaut wurde. Von hier hat man einen wunderschönen Blick auf eines der Täler der Bergkette Sierra de Serrota – ideal für ein Picknick. Ein Mann mit Stock lehnt an der steinernen Kirchenmauer. Neben ihm sitzt eine junge Katze mit wachen Augen. Er scheint es nicht eilig zu haben, grüßt unbeteiligt und schaut über den Pfarrgarten hinweg in die Ferne. Die Sonne ist schon längst verschwunden als er langsam an mir vorbeischlendert. Luki, seine Katze, ist ihm dicht auf den Fersen. Wie es hier so ist zu leben, frage ich ihn. Ruhig sagt er schüchtern, vor allem ruhig. Aber seine Katzen seien ihm eine gute Gesellschaft: „So ein Tier hat man irgendwann ziemlich gern“, sagt er noch, bevor er mit Luki hinter seiner Haustür verschwindet.

Anreise: Ohne Auto geht hier leider nichts. Von Madrid aus geht es am schnellsten über Ávila.

Sehenswert: Durch Ávila sollte man nicht nur durchgefahren sein. Ein Abstecher ist ein absolutes Muss. Wer die Natur liebt, ist in Villanueva del Campillo schon ganz richtig, die Sierra de Gredos setzt zum Wandern noch einen oben drauf. El Barco de Ávila begeistert durch seinen historischen Ortskern.

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