„Flamenco – sensual rythm, good music and food, señora. Tonight!“ Genervt schaue ich von meiner Stadtkarte auf. Nur weil ich in Granada fremd bin, heißt das noch lange nicht, dass ich mir jetzt das wohl touristischste Event Spaniens zu Gemüte führen muss, denke ich. Die schlanke Frau, die mir eben einen Flamenco-Abend auf einem Englisch mit osteuropäischem Akzent schmackhaft machen wollte, hält mir nun einen bunten Flyer hin, auf dem eine Frau in langem engen Kleid einen Arm energisch nach oben streckt, während sie den anderen im Bogen um ihre Hüfte biegt. Ich lächle schwach, nehme den Zettel trotzdem entgegen und stecke ihn in meine Tasche.
Flamenco ist für mich ein spanisches Klischee. Ein Tanz, der das, was man in anderen Ländern über Spanien denkt – Sinnlichkeit, Feuer und Lebendigkeit – widerspiegelt. Und eine nette Unterhaltung, die man sich eben in einem typischen Pauschalurlaub im Hotel anschaut, weil man glaubt, dass man damit das Reiseland ein bisschen besser kennenlernt.
Beim Mittagessen ziehe ich den Flyer doch wieder aus der Tasche. Ich erinnere mich an das Konzert von Rosalía mit Raül Refree, dass ich 2017 in Regensburg mitorganisiert hatte und mir damals einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte. Reines, unglaublich emotionales Flamenco – das war es, was sie damals sang, bevor sie weltberühmt wurde.
Plötzlich fällt mir auf, dass ich gar nicht so genau weiß, was Flamenco eigentlich ist. Ein Tanz? Gesang? Gitarrenmusik? Ich entschied mich, dem Touri-Event doch noch eine Chance zu geben und in Granada, einer der besten Städte, um Flamenco zu sehen, dem Kunstgenre auf die Spur gehen.
Flamenco: Mehr als Touri-Unterhaltung
Was ist Flamenco?
Sinnliche Bewegungen, herzzerreißende Gesänge und gefühlvolle Gitarrenstücke – all das ist Flamenco. Es ist ein Kunstgenre, das sich zusammensetzt aus dem Gesang (el Cante), dem Gitarrenspiel (el Toque) und dem Tanz (el Baile). Aus dem Zusammenspiel von Liedern, Tänzen, der typischen Flamencokleidung und dem Rythmus der Gitarre entsteht das, was man als Flamenco kennt und seit 2010 zum Immateriellen Kulturerbe der UNESCO gehört.
Die Geburt des Flamenco
Der Ursprung dieses Kunstgenres ist ein rätselhaftes und faszinierendes Kapitel in der Geschichte Spaniens. Es ist schwer, einen genauen Zeitpunkt oder Ort für die Entstehung festzulegen, da er in den Volkskulturen Andalusiens verwurzelt ist und von verschiedenen kulturellen Einflüssen geprägt ist. In Andalusien lebten über Jahrhunderte hinweg Araber, Juden und Gitanos (spanisch für Zigeuner) auf engem Raum zusammen und beeinflussten sich gegenseitig in ihrem künstlerischen Ausdruck. Nach und nach entwickelten sich daraus Musikstücke, die mit Tanz und Gesang begleitet wurden. Um 1770 wurde der Flamenco dann zum ersten Mal in Texten erwähnt, in denen berichtet wird, dass Gitanos auf Festen und zu Feierlichkeiten Tänze und Gesänge vorführten. Man kann also davon ausgehen, dass der Flamenco in ähnlicher Form wie wir ihn heute kennen, seit ungefähr 2 Jahrhunderten existiert.
Emotionen ohne Worte
Flamenco ist eine leidenschaftliche und gefühlvolle Form der musikalischen und tänzerischen Kunst. Sie erzählt Geschichten und vermittelt tiefe Emotionen und kommt dabei oft ganz ohne Worte aus. Die Künstler setzen ihre Stimme, ihren Körper und ihre technischen Fertigkeiten an der Gitarre ein, um Gefühle wie Liebe, Sehnsucht, Schmerz und Freude auszudrücken. Mal ist Flamenco melancholisch, mal feurig und leidenschaftlich oder freudig – es spiegelt die Bandbreite menschlicher Emotionen wider.
Der gefühlvolle Gesang: El Cante
Der Gesang oder Cante ist ein zentraler Bestandteil des Flamenco. Er kann von sanften, melodischen Tönen bis zu schrillen und kraftvollen Ausbrüchen reichen. Die Texte der Songs behandeln oft Themen wie Liebe, Verlust, Leidenschaft und das harte Leben in Andalusien. Die Gesangsstile, auch Palos genannt, variieren je nach der emotionalen Botschaft des Liedes. Über 50 unterschiedliche von ihnen gibt es. Die grundlegenden Palos sind Alegrías, ein freudiger Flamencostil, der vor allem rund um Cádiz verbreitet ist; Bulerías, eine leichte Form des Flamenco, die gerne bei Partys und Festen interpretiert wird und deutlich schneller als andere Stile ist; Fandangos, der älteste existierende Palo, der an den portugiesischen Fado erinnert; Tangos, ebenfalls einer der ältesten Stile und auch Sevillanas, einer der bekanntesten und beliebtesten Palos weltweit.
Die Gitarrenmusik: El Toque
Aus Zypresse, Tanne und Zeder entsteht das Instrument, das dem Flamenco seine Essenz gibt – die Flamenco-Gitarre. Sie ist ein bisschen schmaler und leichter als die klassische Gitarre und wird für gewöhnlich mit überkreuzten Beinen, in einer fast vertikalen Position gespielt. Auch die Fingerhaltung unterscheidet sich zur klassischen, wobei die Finger so eingesetzt werden, dass sie die Seiten mit höherer Intensität spielen können sowie auf dem Holz der Gitarre einen Rhythmus anschlagen können.
Neben der Gitarre, dem Händeklatschen und den speziellen Fußtechniken der Tänzer werden weitere Percussion-Instrumente im Flamenco eingesetzt wie der Cajón, der zum ersten Mal im Ensemble von Paco de Lucía (sieh dir das Video unten an) eingesetzt wurde und Kastagnetten, die seit jeher in folkloristischen Tänzen Andalusiens verwendet, im Flamenco seit der Franco-Diktatur jedoch immer weniger genutzt werden.
Der Flamenco-Tanz: El Baile
Der Tanz oder Baile ist ebenso leidenschaftlich und ausdrucksstark wie der Gesang. Die Tänzer_innen verwenden komplizierte Schrittfolgen und kraftvolle Bewegungen, wobei jeder Stil seine eigenen charakteristischen Schritte und Rhythmen hat. Besonders im Flamenco ist, dass es keine fest einstudierten Abfolgen gibt, sondern die Bewegungen zu einem großen Teil spontan und improvisiert während des Tanzes entstehen. Die Zapateados, die Steppschritte, sind ein grundlegender Teil des Flamenco und verwandeln den Tänzer in einen Musiker, wobei er mit rhythmischen Schritten die Musik beeinflusst. Die Fußspitze wird dabei anders eingesetzt als die Sohle oder die Ferse und auch die Körperbewegung, die im Fuß ihren Höhepunkt findet, ist essenziell für den spezifischen Rhythmus.
Flamenco-Mode: Eleganz und Lebensfreude gleichermaßen
Die Kleidung ist ein wesentlicher Bestandteil dieser faszinierenden, spanischen Kunstform. Sie soll nicht nur schön aussehen, sondern gleichzeitig die Emotionen, die der Tanz ausdrückt, unterstreichen.
Frauen, die Flamenco tanzen, tragen oft elegante, langärmelige Kleider, die als Trajes de Flamenca bekannt sind. Diese Kleider sind in der Regel bodenlang und zeichnen sich durch ihre eng anliegende Form und ihren ausgestellten Rock aus. Die Rüschen, Volants und Falten, die den Rocksaum und die Ärmel schmücken, verleihen den Kleidern eine dramatische Note. Die Wahl der Farben ist vielfältig und reicht von kräftigen Rottönen bis zu leuchtendem Türkis, wobei sie für gewöhnlich sehr farbenfroh sind.
Die Männer tragen während ihrer Aufführungen oft elegante Anzüge, die als Trajes de Corto bezeichnet werden. Diese Anzüge bestehen aus eng anliegenden Hosen, einer weißen Hemdbluse, einer Weste und einem Hut. Die Kombination aus dunklen Hosen und einer weißen Bluse verleiht den Männern eine elegante und zeitlose Erscheinung.
Die Flamenco-Kleidung ist nicht nur ein ästhetischer Aspekt, sondern auch ein kultureller Ausdruck. Sie gilt mittlerweile als offizielle Tracht Andalusiens und ist der fast verpflichtende Dresscode (zumindest jeder Frau) auf der weltbekannten Feria de Abril in Sevilla. Sie spiegelt die Geschichte und Traditionen Spaniens wider und repräsentiert die leidenschaftliche und ausdrucksstarke Natur des Flamenco selbst. Während der Aufführungen verleihen die Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer den Kleidern zusätzliche Dimension und Grazie, wodurch die visuelle Schönheit des Flamenco verstärkt wird.
Bekannte Flamencosänger und -tänzer
Ohne diese Künstler wäre der Flamenco nicht, was er heute ist. Talentierte Sänger, herausragende Gitarristen und Tänzer haben das Genre immer wieder neu interpretiert und abgewandelt. Zu den bekanntesten zählen Paco de Lucía, der durch seine einzigartige Beherrschung der Flamenco-Gitarre berühmt wurde, Camarón de la Isla, der für viele als bester zeitgenössischer Flamenco-Sänger gefeiert wurde, La Niña de los Peines, die als beste Sängerin dieses Genres aller Zeiten gilt oder Lola Flores, die nicht nur für ihre Flamenco-Performances, sondern auch für ihre Filme in Spanien bekannt wurde. Zu den einflussreichsten Flamenco-Tänzern zählen Farruquito (siehe Video) oder Carmen Amaya, die ein unvergleichliches Gefühl für Rhythmus und Bewegung auszudrücken wissen.
Wo Flamenco sehen?
Granada
Aus meiner ablehnenden Haltung wurde ein 50 € teurer Abend mit gar nicht so schlechtem Essen und einer unglaublich guten Flamenco-Vorstellung. In kleinem, zugegeben sehr touristischem Kreise, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben gesehen und gespürt, was Flamenco bedeutet. Während der Mann mit langen Haaren und hautenger Hose zwei Meter von mir weg sich vom Tänzer, zum Musiker und zurück verwandelte, hatte ich das Gefühl haargenau zu verstehen, was er mir mit seinem Körper sagen wollte. Emotionen brauchen eben keine Worte.